„Ich riss mir die Schläuche raus, stand
Autonomy and police repression against the anarchist sex workers of Barcelona
***For English version, please scroll down***
Teil 2 / 2, Teil 1 findest du hier.
„Die Polizei kommt nicht in unsere Straße“, sagt Janet. Inzwischen sitzen wir in der Bar 49, eine laute Kneipe, die so gar kein Ort ist, an dem ich, der um 22 Uhr abends im Bett liegt, normalerweise anzutreffen bin. Musik läuft, Stimmen wirbeln durcheinander. Ana fragt mich, ob ich vegan bin. Ich sage nein und alle jubeln. Ich frage, warum. Sie sagen: „Aktivist*innen brauchen Kraft!“
Ana bringt mir einen Teller von dem Hühnchen, Lauch und Reis, das sie gestern gekocht hat. Ich meinte eigentlich, dass ich vegetarisch bin, es war ein Übersetzungsproblem, aber so wichtig ist mir das nicht, als dass ich Anas Essen zurückweisen würde. Während des Interviews wärmt sie es in einem Hinterraum für mich auf, redet mit allen Leuten, die rein und rausgehen und ist nur selten auf meinem Audiofile zu hören.


„Wenn ein Polizeiauto durch die Robador fährt, dann steigen sie nicht aus. Sie wissen, dass ich die Nummern der Comissarios in meinem Handy habe. Wenn sie Probleme machen, rufe ich da an.“ sagt Janet.
Die Sexarbeit findet in Spanien in einer gesetzlichen Grauzone statt, es gibt jedoch viele kommunale Verordnungen, die sowohl Arbeiter*innen als auch Kund*innen bestrafen. Erst letztes Jahr konnte die landesweite Teilkriminalisierung („Nordisches Modell“) abgewendet werden. Aufgrund der Geschichte Kataluniens war es möglich, für die Sexarbeiter*innen in Barcelona besondere Rechte zu erkämpfen: „In unserem Territorium haben illegalisierte sowie trans und nicht binäre Sexarbeiter*innen Zugang zur Gesundheitsversorgung, sie können beweisen, dass sie hier Leben, und niemand kann sie bestrafen. Das haben wir mit dem Aktivismus erreicht,“ sagt Janet. Sie wird in ganz Spanien für Vorträge angefragt, da alle die Autonomie (Autogestió) der Bewegung kennenlernen wollen. Das Kollektiv Putas Libertarias del Raval ist dabei nur ein Gesicht der Organisation. Parallel dazu agieren die Prostitutas Indignadas. Sie können öffentlich mit Politik und Behörden ins Gespräch kommen, während die Anarchist*innen weiter antikapitalistisch, antistaatlich und antipatriarchal bleiben.
Diese Schlagworte entwickeln eine greifbare Kraft in der Bar 49. Sexarbeiter*innen aller Altersgruppen gehen ein und aus, unbehelligt von Blicken oder Sprüchen. Sie plaudern mit den Gästen und mit Ana, eine Frau verkauft Schmuck, sie hat ein Kind dabei. Die Worte „antikapitalistisch, antistaatlich und antipatriarchal“ sind nicht nur Wünsche, oder Versprechen, oder schlimmstenfalls leere Phrasen. Sie werden wahr in der Würde der Compañeras, die ich hier sehe.
Was ist das, Würde? Sie ist etwas so schwer greifbares, und doch elementares. Sie geht über das bloße Essen und Schlafen hinaus. Nach ein paar der hellen Biere, die mit einer Zitronenschnitze serviert werden, bleibt Ana an unserem Tisch sitzen und wir beginnen ein tieferes Gespräch.
Sie berichtet mir, wie sehr ihr Leben von ihrem Aktivismus bestimmt ist. Wie sie die Politik in jeden Winkel ihres Alltags bringt. Sie begann mit der Sexarbeit im Alter von 12 Jahren, damals lebte sie noch in Brasilien. Fünzig Jahre später macht sie immernoch den Job. Dabei geht es ihr um die Befreiung aller. Als sie mitbekommt, dass eine Frau in ihrem Wohnhaus von ihrem Mann unterdrückt wird, interveniert sie erfolgreich.
„Es geht um Liebe“, sagt sie zu mir. „Amor“, nicken die anderen. Diese Liebe hat sie nicht nur für ihre Compañeras: „Man sagt Las Putas con las Putas, die Huren stehen auf der Seite der Huren. Doch wir sagen: Las Putas con Todas. Die Huren stehen auf der Seite aller.“
Hier beginne ich zu verstehen, warum sie mir den Garten zu Ehren Andrés gezeigt haben und warum ich die Geschichte von Señor Peres kennenlernen musste. Würde entsteht aus Beziehungen und in Beziehung zueinander.
Umso gravierender, dass vielerorts, auch in Spanien, Sexarbeiter*innen, die sich gemeinsam organisieren, die also in Beziehung zueinander stehen, als Zuhälter*innen und, oft im Fall von Migrant*innen, als Menschenhändler*innen kriminalisiert werden.

Vor einem halben Jahr, am 17. Dezember 2024, war für den Nachmittag eine große Demonstration geplant, um den Internationalen Tag gegen Gewalt an Sexarbeiter*innen zu begehen. Doch dazu kam es nicht. Früh morgens begann eine Razzia im Rotlichtbezirk. Die Polizei nahm sieben Personen fest, fünf Sexarbeiterinnen, darunter Ana, einen Sexarbeiter sowie den Betreiber eines Kiosks, in dem die Menschen auf der Robador gerne einkaufen. Ein*e anonyme*r Zeug*in hatte behauptet, sie seien an Menschenhandel beteiligt.
„Als ich davon hörte, war ich gerade im Krankenhaus“, sagt Janet. „Ich riss mir die Schläuche raus, stand auf, und kam direkt zur Polizeistation, wo sie festgehalten wurden. Die Cops wussten, Scheiße, jetzt haben wir ein Problem. Ich sagte: Nehmt mich fest! Wenn ihr sie festnehmt, dann müsst ihr mich auch festnehmen! Doch sie sagten: Wir nehmen dich nicht fest. Du musst ja die anderen wieder rausholen.“
Im Laufe jenes Vormittags unterschrieben eintausend Gruppen und Organisationen ein Protestschreiben gegen die Razzia und die Verhaftungen, darunter Feminist*innen, Politiker*innen und Universitäten. Eine Menschenansammlung bildete sich vor der Polizeiwache.
„Wir waren draußen und schrien,“ sagt Janet. Ana, mit den anderen Gefangenen in der Wache, konnte sie hören. Drinnen brüllte sie die Polizist*innen an und verfluchte sie, bis diese sich vor ihr zu fürchten begannen. „Sie ist eine Bruja, eine Hexe, sagten sie zueinander. Verhexe mich nicht!, sagten sie zu mir. Und ich sagte: Ich wusste nicht, dass es verboten ist, gegenseitige Hilfe zu leisten! Ich wusste nicht, dass Frauen, die andere Frauen unterstützen, ein Verbrechen begehen!“
Sie erklärt mir, was sie auch den Behörden erklärt hat: Sie unterstützt Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben nach Spanien kommen. Sie hilft Frauen, dort zu arbeiten, damit sie Geld zu ihren Familien nach Kolumbien und andernorts senden können. „Was sie brauchen ist Sicherheit, damit es ihnen gut geht. Es geht hier gar nicht um Geld. Es geht um gegenseitige Hilfe.“
Dann berichten die beiden von einem Meeting mit den Comissarios der Polizei, die sich vor ihnen zu fürchten schienen. Offenbar waren Razzia und Verhaftungen weder auf Anordnung der Polizeibehörde, noch eines Gerichts erfolgt, sondern von der Politik veranlasst worden. Die Putas sehen eine Verbindung der Repression gegen sie mit der zunehmenden Repression gegen soziale Bewegungen in Barcelona, wozu beispielsweise ein erhöhter Einsatz von V-Leuten gehört. Die sieben Verhafteten verbrachten zwei Tage in Polizeigewahrsam, eine Anklage gab es nie. Derzeit wird das Vorgehen der Behörden untersucht. Ich frage, welche Art der Unterstützung sie sich wünschen. Janet sagt: „Wir brauchen nichts. Uns geht es gut. Wir haben unser Netzwerk. Sollte etwas passieren, dann sagen wir Bescheid. Aber ihr müsst euch keine Sorgen machen, wir regeln das.“
DANKE an Janet, Ana, Iñati und alle Personen, die mit mir so großzügig ihre Erfahrungen und ihre Kraft geteilt haben, insbesondere an Patt von t.i.c.t.a.c. für die mehrstündige Übersetzung der Gespräche.
“I ripped the tubes out of my arm, got
Part 2 / 2. You can find part 1 here.
“The police don’t come into our street,” Janet says. By now we’re sitting in Bar 49, a loud dive bar that’s not at all the kind of place you’d usually find me — someone who’s normally in bed by 10 p.m. Music’s playing, voices swirl through the air. Ana asks me if I’m vegan. I say no and everyone cheers. I ask why. They say: “Activists need strength!” Ana brings me a plate of the chicken, fried leeks and rice she cooked yesterday. I actually meant I’m vegetarian — it was a translation hiccup — but it doesn’t matter enough for me to turn down Ana’s food. During the interview she heats up the meal in a back room, chats with everyone coming and going, and is only rarely heard on my audio recording.


“When a police car drives down Robador, they don’t get out. They know I have the Comissarios’ numbers saved on my phone. If they cause trouble, I call them up,” Janet says.
Sex work in Spain exists in a legal grey zone, but there are countless local ordinances that punish both workers and clients. Just last year, a nationwide partial criminalisation — the “Nordic Model” — was narrowly defeated. Because of Catalonia’s history, sex workers in Barcelona have managed to secure certain special rights: “In our territory, undocumented, trans and non-binary sex workers have access to health care, they can prove they live here, and no one can punish them. We achieved that through activism,” Janet says. She’s invited all over Spain to give talks, because everyone wants to understand the movement’s principle of autogestió — self-management. The Putas Libertarias del Raval collective is just one face of the movement. In parallel, there are the Prostitutas Indignadas who go public and negotiate with politicians and authorities — while the anarchists stay anti-capitalist, anti-state and anti-patriarchal.
These words carry a tangible weight here in Bar 49. Sex workers of all ages come and go freely, without facing stares or remarks. They chat with guests and with Ana; a woman sells jewellery while carrying a small child. The words “anti-capitalist, anti-state, anti-patriarchal” aren’t just wishes, promises or — worst of all — empty phrases. They take form in the dignity I see in the compañeras.
What is dignity? It is hard to grasp — yet it is essential. It goes beyond just having food to eat and a place to sleep.
After a few of the light beers served with a slice of lemon, Ana stays at our table and we fall into a deeper conversation.
She tells me how much her life is shaped by her activism — how she brings politics into every corner of her everyday life. She began doing sex work at the age of twelve, back in Brazil where she was born. Fifty years later, she’s still in the work. For her, it’s about liberation for all. When she notices a woman in her apartment building being oppressed by her husband, she intervenes — and is able to help her.
“It’s about love,” she says. “Amor,” the others nod. And this love is not just for her compañeras: “People say, Las Putas con las Putas — the whores stand with the whores. But we say: Las Putas con Todas. The whores stand with everyone.” That’s when I begin to understand why they showed me the garden in honour of Juan Andrés and why I had to hear the story of Señor Peres. Dignity is born from relationships — and in relationship with each other.
It’s all the more striking that in many places — including Spain — sex workers who organise collectively, who stand in relationship with each other, are criminalised as pimps or, in the case of migrants, as human traffickers.
Half a year ago, on December 17th 2024, a big demonstration had been planned for the afternoon — to mark International Day to End Violence Against Sex Workers. But it never happened. Early that morning, a raid began in the red light district. The police arrested seven people: five female sex workers — Ana among them — one male sex worker, and the owner of a kiosk where the people of Robador like to shop. An anonymous witness had claimed they were involved in trafficking.
“When I heard about it, I was in the hospital,” Janet says. “I ripped the tubes out of my arm, got up and went straight to the police station where they were being held. The cops knew — shit, now we have a problem. I said: Arrest me! If you’re going to arrest them, you have to arrest me too! But they said: We’re not arresting you. You have to get the others out.”
By midday, a thousand groups and organisations — feminists, politicians, universities — had signed a protest letter against the raid and the arrests. A crowd gathered in front of the station. “We were outside shouting,” Janet says. Inside, Ana and the others could hear them. She yelled at the cops, cursed them out, until they started to fear her. “They called me a bruja, a witch. ‘Don’t hex me!’ they said. And I said: I didn’t know that mutual aid is a crime! I didn’t know that women helping other women is a crime!’”
She explains to me what she also told the authorities: she supports people who come to Spain seeking a better life. She helps women find work so they can send money back to their families in Colombia and beyond. “What they need is safety, so they can be well. It’s not about money. It’s about mutual aid.”
They tell me about a meeting with the police Comissarios, who seemed afraid of them. Apparently the raid and arrests had been ordered not by the police or a judge, but by politicians. The Putas see a link between the repression they face and the broader crackdown on social movements in Barcelona — including an increased use of informants. The seven people arrested spent two days in custody; they were never charged. Now, an investigation is underway into the authorities’ actions.
I ask what kind of support they wish for.
Janet says: “We don’t need anything. We’re fine. We have our network. If something happens, we’ll let you know. But you don’t have to worry about us — we’ve got it handled.”
THANK YOU to Janet, Ana, Iñati and everyone who generously shared their experience and power with me, and especially to Patt from collective t.i.c.t.a.c. for the many hours of translating our conversations.