„Wir lebenslangen H*ren möchten mit erhobener Faust
Learning from the anarchist street sexworkers of Barcelona
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Teil 1 / 2
Der Communitygarten Àgora Juan Andrés liegt still in der Sonne. In den Beeten, die die Wege säumen, wachsen Blumen und Gemüsepflanzen dicht und üppig. An einem Baum reifen gelbe Früchte, die ich noch nie gesehen habe. Zwei Leute, die gerade den Garten verlassen, pflücken sie und reichen mir eine Handvoll. Es sind Mispeln, pelzig, sie schmecken süß-herb, im Innern haben sie drei klebrige Kerne. Der Garten hat die Grundfläche eines Mehrfamilienhaus, sicher wäre er heute bebaut, hätte es die Besetzung damals nicht gegeben. Am 6. Oktober 2013 ermordeten Polizisten hier Juan Andrés Benítez.


Nachbar*innen konnten die Tat aus dem Fenster heraus dokumentieren, weshalb es später zu einem Gerichtsprozess kam. Aus Wut und Trauer über diesen Mord besetzten die Bewohner*innen des Stadtviertel Raval die brache Fläche und gründeten diesen Garten. Zu Ehren und in Erinnerung an den queeren Aktivisten Juan Andrés, dessen Mörder mit geringen Haftstrafen davonkamen. Ein Foto zeigt ihn, wie er mit seinem Hund schmust, daneben ein Poster, das an die in diesem Frühjahr in Kolumbien ermordete trans Frau Sara Millerey erinnert.
Auf der gemeinschaftlich verwalteten Fläche gibt es ein Toilettenhäuschen, das insbesondere den Menschen des Viertels, die auf der Straße leben, offen steht. Außerdem stehen dort Tische und Stühle, wie in einem Café, die für mindestens dreißig Personen Platz bieten. Alles ist liebevoll geschmückt. Damit soll vor allem den wohnungslosen Nutzer*innen gezeigt werden, dass sie wertgeschätzt werden. „Sie sollen spüren, dass auch sie etwas Schönes verdient haben“ sagt Janet. Ana zeigt mir die vollausgestattete Küche, zu der ein großer, gut bestückter Gefrierschrank gehört. Sie kocht häufig KüfA, gestern gab es Hühnchen, frittierten Lauch und Reis.
An den Wänden hängen Portraitfotos von allen, die damals bei der Besetzung der Fläche geholfen haben. An einer anderen Wand hängen Bilder, die den Aufbau des Gartens dokumentieren. Mit den Früchten in der Hand verlassen wir den Garten.
Durch die verschlungenen Verbindungen politischer Organisierung bin ich mit dem Kollektiv Putas Libertarias del Raval in Kontakt gekommen. Heute darf ich sie interviewen. Es ist der zweite Mai, Tag der Arbeitslosen, an dem man gegen den Zwang zur Arbeit kämpfen soll. Doch anstatt auszuschlafen bin ich schon um drei Uhr morgens in Berlin Neukölln aufgestanden, um am frühen Abend in Barcelona mit den Putas durch ihr Viertel, das Raval, zu streifen. Vor einem halben Jahr gab es dort eine Razzia, bei der mehrere Sexarbeiter*innen verhaftet wurden. Freund*innen brachten mich mit Janet in Kontakt. Sie arrangierte das Treffen, zu dem auch Ana und Übersetzer*in Patt vom trans*feministischen Kollektiv t.i.c.t.a.c. gekommen sind. Ich dachte, wir machen ein Interview über die Arbeitskämpfe und Repression der organisierten Sexarbeiter*innen. Stattdessen zeigen sie mir ihre Welt, ihr Territorium.


Anders als in Berlin, wo die trans Sexarbeiter*innen in einer Nebenstraße des Rotlichtviertels arbeiten, stehen cis und trans Personen gemeinsam auf der Carrer d'En Robador. Zwischen vierzig und sechzig Sexarbeiter*innen organisieren sich hier, um die Arbeitsräume und den Kodex der Straße gemeinsam zu verwalten. Wir sitzen auf einem Sofa im Aufenthaltsraum eines der Häuser, die anderswo vielleicht Stundenhotels wären. Die Freund*innen haben mich durch schmale Gänge, an Arbeiter*innen und ihren Kunden vorbei, durch die Zimmer geführt. Darin jeweils ein Bett, ein kleiner Tisch, manchmal ein Fernseher. Bilder, Vorhänge, bunte Wände.
Die Sexworker führen das Haus kollektiv. Ich darf insgesamt vier dieser Gebäude besuchen, alle in direkter Nähe zum Straßenstrich, manche sind angemietet, andere hält die Gruppe besetzt.
Die Regeln der Kooperative lauten: Keine Zuhälter, keine Drogen und Respekt den Compañeras, das heißt den anderen Sexarbeiter*innen gegenüber. Außerdem dürfen Frauen, die von ihrem Mann oder Freund geschlagen werden, nicht dort arbeiten. Zwischen lauter Musik, Zigarettenrauch und dem Lachen der Arbeiter*innen diskutieren wir darüber, denn in mir löst das Widerstände aus. Ich habe gelernt, dass Sexarbeit für Menschen eine Möglichkeit sein kann, sich unabhängig ihrer gewalttätigen Beziehung Geld zu verdienen. Ist es nicht unfair, wenn sie dann nicht arbeiten dürfen? Doch der Gedanke der Anarchist*innen ist, dass eine Frau, die trotz ihres gewalttätigen Partners geduldet wird, hauptsächlich jenem Partner nutzen würde. Wenn er möchte, dass sie weiter Geld verdient, muss er aufhören, sie zu schlagen.
Janet erinnert mich daran, dass sie Sexworker sind, keine Beratungsstelle für Betroffene von Gewalt und auch kein Frauenhaus. Mir fällt ein geflügeltes Wort ein: The tart with a heart. Die Hure mit dem Herz aus Gold. Meine Erwartung, dass sie sich um alle Opfer des Patriarchats kümmern, egal ob sie das überhaupt können, stammt sicherlich von diesem Klischee.
Das Raval ist ein Viertel, in dem vor allem Migrant*innen, Arbeiter*innen und arme Menschen leben, auch wenn es, wie ganz Barcelona von Gentrifizierung bedroht ist. Dennoch gelingt es den Bewohner*innen, einen hohen Grad an Selbstorganisierung aufrecht zu erhalten. Den anarchistischen Buchladen El Lokal beispielsweise, der seit 1987 besteht, nutzen die Putas Libertarias als Briefkasten und Raum für Treffen. Iñaki, der Sprecher des Lokal, empfängt mich herzlich. Statt über Sexarbeit sprechen wir über Pedro Asensio Cuadrado, einen Aktivisten des Viertels, der schon gegen Franco gekämpft hatte und im Raval zuhause ist. Die Compañeres zeigen mir ein riesiges Banner, das ihn würdigt und schenken mir ein Buch, in welchem auch Janet im Namen der Putas Libertarias eine Wimdung verfasst hat. Darin schreibt sie: „Wir lebenslangen Huren möchten mit erhobener Faust zum Ausdruck bringen, dass Señor Pere immer auf unserer Seite war.“
Die Sexarbeiter*innenbewegung Deutschlands hat einen anderen Fokus. Sie ist seit den 2000ern eher neoliberal geprägt und kämpft um Gleichbehandlung durch Banken und Finanzamt. Andere Teile der Bewegung kämpfen vor allem gegen das Hurenstigma. Das Stigma gegen Sexworker ist ein Motor der Gewalt gegen sie. Durch Bildung, Kultur und Pressearbeit soll der Gesellschaft vermittelt werden, dass Huren Menschen sind. Dieses Anliegen liegt mir als jemand, der in Kunst und Kultur sowie in Bildung arbeitet, sehr nahe. Doch hier spüre ich, wie aussichtslos der Kampf im kulturellen Raum ist, wenn er keine Kraft aus Autonomie und Selbstverwaltung von Ressourcen ziehen kann.
Freut euch auf TEIL 2!
“We lifelong whores want to raise our fist to say
Part 1/2
The community garden Àgora Juan Andrés lies still in the sun. Flowers and vegetables grow dense and lush in the beds lining the paths. On one tree, yellow fruits are ripening — I have never seen them before. Two people leaving the garden as we arrive pick some and hand me a handful. They’re loquats, slightly fuzzy, sweet and tart, with three sticky seeds inside. The garden covers the footprint of what could have been an apartment building — it would surely be built up by now if the occupation hadn’t happened back then. On October 6th, 2013, police officers murdered Juan Andrés Benítez here.


Neighbours were able to document the killing from their windows, which was the only reason the case ever went to court. Out of anger and grief over this murder, the residents of the Raval neighbourhood occupied the empty lot and created this garden — in honour and memory of queer activist Juan Andrés, whose killers got away with minimal sentences. A photo shows him cuddling his dog; next to it hangs a poster commemorating Sara Millerey, a trans woman murdered this spring in Colombia. On this collectively managed space there’s a small toilet block, especially for the people in the neighbourhood who live on the streets. There are also tables and chairs, like in a café, with enough room for at least thirty people. Everything is decorated with care. The intention is to show especially the unhoused visitors that they are valued. “They should feel that they too deserve something beautiful,” says Janet. Ana shows me the fully equipped kitchen, which includes a large, well-stocked freezer. She often cooks community meals here — yesterday it was chicken, fried leeks and rice.
Portraits of everyone who helped occupy the lot back then hang on the walls. On another wall, photos document how the garden was built up. With the fruit in our hands, we leave the garden.
Through the tangled threads of political organising, I got in touch with the collective Putas Libertarias del Raval. Today I get to interview them. It’s the 2nd of May — the Day of the Unemployed, when people protest against the capitalist notion of wage labour. But instead of sleeping in, I got up at three in the morning in Berlin-Neukölln to spend the early evening walking through the Raval with the Putas. Half a year ago, there was a police raid here in which several sex workers were arrested. Friends put me in touch with Janet. She arranged the meeting, where Ana and translator Patt from the trans*feminist collective t.i.c.t.a.c. are joining us. I thought we would do an interview about their labour struggles and the repression against organized sex workers. Instead, they show me their world, their territory.


Unlike Berlin, where trans sex workers work on a side street off the red light district, cis and trans people stand side by side here on Carrer d’En Robador. Between forty and sixty sex workers self-organize here to manage the working spaces and the street’s codex together. We sit on a couch in the common room of one of the houses — elsewhere, this would probably be a hotel-by-the-hour. My friends guide me through narrow corridors, past workers and their clients, through the rooms: each with a bed, a small table, sometimes a TV. Pictures, curtains, colourful walls.
The sex workers run the house collectively. I get to visit four of these buildings in total, all directly next to the street sex work zone — some they rent, some they squat.
The cooperative’s rules are: no pimps, no drugs, and respect for the compañeras — the other sex workers. Also, women who are beaten by their husbands or boyfriends are not allowed to work there. Between loud music, cigarette smoke and the laughter of the workers, we discuss this rule — it stirs up resistance in me. I’ve learned that sex work can be a way for people to earn money independently from their abusive partners. Isn’t it unfair to forbid them to work? But the anarchists’ idea is that a woman who is tolerated despite her violent partner would mostly benefit that partner. If he wants her to keep earning money, he has to stop beating her. Janet reminds me that they are sex workers, not a counselling centre for victims of violence or a women’s shelter.
A phrase comes to mind: the tart with a heart. The hooker with the heart of gold. My expectation that they should take care of all victims of patriarchy — whether they even can or not — probably comes from this cliché.
The Raval is a neighbourhood mostly home to migrants, workers and poor people — although, like all of Barcelona, it’s under threat of gentrification. Still, the residents manage to maintain a high degree of self-organisation. For example, the anarchist bookshop El Lokal, which has existed since 1987, is used by the Putas Libertarias as a mailbox and a meeting space. Iñaki, the spokesperson for El Lokal, greets me warmly. Instead of talking about sex work, we talk about Pedro Asensio Cuadrado, an activist from the neighbourhood who fought against Franco and still lives here in Raval. The compañeres show me a huge banner honouring him and gift me a book in which Janet has written a dedication on behalf of the Putas Libertarias. In it she writes: “We lifelong whores want to raise our fists to say that Señor Pere was always on our side.”
The sex workers’ movement in Germany has a different focus. Since the 2000s it has been shaped more by a neoliberal framework — fighting for equal treatment by banks and the tax office. Other parts of the movement fight mainly against the stigma attached to sex work. This stigma is a motor of the violence against sex workers. Through education, culture and press work, society is supposed to learn that sex workers are human. This goal resonates deeply with me as someone who works in art, culture and education. But here I feel how hopeless the fight in the cultural sphere is if it draws no strength from autonomy and collective control of resources.
Stay tuned for PART 2!